Was ist traumasensible Familienbegleitung?
In meiner jahrzehntelangen Erfahrung in der Arbeit mit Menschen die am Rande der Gesellschaft stehen, erlebte ich immer wieder Unverständnis, Hilflosigkeit und Frust von Seiten des Helfersystems. Pädagogen, Familienbegleiter, Beistandschaften oder auch Amtsmitarbeitende, stossen im Umgang mit dem Klientel oft an ihre Grenzen. Dies führt leider allzu oft zu Hilflosigkeit und Unbehagen auf beiden Seiten. Im schlimmsten Fall führt dies zu Machtkämpfen und Eskalation.
Die Besonderheit der traumasensiblen Familienbegleitung ist die Fähigkeit den Klienten zu co-regulieren. Dies kann in der Arbeit mit Klientel mit unvorhersehbaren Verhalten, von grosser Hilfe sein.
Traumasensible Familienbegleitung weiss was Trauma ist, wie es sich im Klienten bemerkbar macht und wie man damit umgeht. Der/die traumasensible Familienbegleiter/in weiß darüber Bescheid wie sich Dysregulation im Nervensystem zeigt und kann angemessen darauf reagieren.
Co-regulation bedeutet dem Klienten die Sicherheit vermitteln zu können, die für die Arbeit nötig ist und „eingestimmt“ auf die Zustände des Klienten, mit ihm mitgehen.
Dies ist Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Zusammenarbeit.
Traumasensible Familienbegleitung sieht dass herausfordernde Situationen nicht daraus entstehen, dass Menschen nicht gewillt sind mitzuarbeiten oder kein Interesse daran haben sich helfen zu lassen. Traumasensible Familienbegleitung weiss dass Vermeidung und Kampf, (Trauma)-Symptome sind und sieht dahinter. Der/die traumasensible Familienbegleiter/in weiss auch, dass sich seine eigene Haltung dem Klienten gegenüber, auf ihn und seine ganze Familie auswirkt. Er/sie weiss auch dass die Beziehung zum Klienten einer der Hauptfaktoren für gelingende Zusammenarbeit ist, und kennt den Einfluss der Bindungstrauma auf diese Beziehung haben kann.
Wer die Traumabrille an hat und Wissen über Nervensystemregulation im Gepäck trägt, sieht die durch Trauma ausgelösten Abwehrmechanismen des Klienten und kann sie geschickt auffangen. Es gelingt ihm diese nicht persönlich zu nehmen. Er/sie wird bemerken wann der Klient in den Flucht-Kampf oder Erstarrungsmodus fällt, und wird das Kampf-Abgabe-oder Scheinkooperationsmuster erkennen, welches daraus entsteht. Der/die traumasensible Familienbegleiter/in lässt sich nicht auf Machtkämpfe ein. Er/sie hat eine erweiterte Kapazität und hält seinen eigenen Raum. Somit ist er/sie viel weniger gefährdet seinem Frust zu verfallen. Traumasensible Familienbegleitung wird neben den praktischen Tipps für den Alltag auch Lösungen für die tieferliegenden Probleme der Familie mitgeben können (Umgang mit eigenen Emotionen, Übungen zur Abgrenzung und um das Durchsetzungsvermögen zu stärken, etc, etc…)
Traumasensible Familienbegleitung packt mit dem Klientel die Probleme an der Wurzel, so dass nachhaltige Veränderung und Heilung im Familiensystem bewirkt werden kann. Auch transgenerationale Traumaweitergabe und die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder später in dieselbe Lage kommen wie ihre Eltern, kann so vermindert werden.
Für wen eignet sich eine traumasensible Familienbegleitung?
Bisher kannte man den Begriff „dysfunktionale Familien“. Dieser Ausdruck wurde benutzt um eine Familie zu beschreiben die mit schwerwiegenderen Problemen zu kämpfen hatte, als eine Durchschnittsfamilie. Wenn Sucht, Missbrauch, Arbeitslosigkeit und somit Armut von den Familienmitgliedern erlebt wurden. Wenn psychische oder physische Erkrankungen so belastend wurden, dass der Alltag nicht mehr ohne Mühe und Anstrengung bewältigen werden konnte. Besonders wenn Kinder darunter litten, sprach man von einer dysfunktionalen Familie.
In den letzten 30 Jahren ist die Wissenschaft vorangekommen und somit das Verständnis davon was Trauma eigentlich ist. Einerseits Dank der Polyvagaltheorie die der Neurowissenschaftler Stephen Porges im Jahre 1994 hervorgebracht hat, welche die Rolle des autonomen Nervensystems im Verhalten des Menschen erklärt und die Auswirkung von Trauma darauf. Anderseits die im Jahre 1998 hervorgebrachte ACE-Study („Advers Childhood Experience“-Studie) Relationship of Childhood Abuse and Household Dysfunction to Many of the Leading Causes of Death in Adults – American Journal of Preventive Medicine (ajpmonline.org) die den Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und den lebenslangen gesundheitlichen Folgen davon nachweist.
Wenn wir uns all diese Erkenntnisse vor Augen führen sehen wir dieselbe Problematik hinter dysfunktionalen Familienverhältnissen. Trauma.
Bei Menschen die z.b. Sozialhilfe beziehen, wegen Kindswohlgefährdung eine Anzeige bekommen, oder Gewalt und Suchtthematiken aufweisen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass Trauma eine Rolle spielt. Bindungs-und Entwicklungstrauma ganz besonders.
Traumasensible Familienbegleitung eignet sich somit für jede Familie die mit solchen Situationen konfrontiert ist.
Was ist denn eigentlich ein Trauma?
Bisher galt Trauma stets als ein schlimmes Ereignis wie Krieg oder Unfall, welches einmal geschah und im Kopf eines Menschen seine Spuren hinterließ.
Der renommierte Arzt Gabor Maté sagt in seinen Büchern dass Trauma sehr subtil entstehen kann. Oft ist es nicht die Folge eines großen und einschneidenden Ereignisses. Es sind unerfüllte Bedürfnisse, emotionale Vernachlässigung oder immer wiederkehrende Situationen in denen ein Kind sich nicht in Sicherheit fühlt, welche das ganze spätere Leben negativ beeinflussen. Wenn wir zurück an die „dysfunktionalen Familien“ denken kann Überforderung im Alltag, alleinerziehende Mutterschaft, und Arbeitslosigkeit Trauma auslösen.
Wir müssen uns als Gesellschaft vor Augen führen dass sich Folgen von Kindheitsttraumata in der Gestaltung des Alltags eines Menschen zeigen. Oftmals als Schwierigkeit in Beziehung zu treten, Unvermögen im Berufsleben zu stehen, finanzielle Schwierigkeiten, Suchtverhalten, etc…
In Bezug auf Familien äussert sich Trauma oftmals in benötigter Sozialhilfeleistung, Kindswohlgefährdung, Arbeitslosigkeit und allgemeiner Überforderung im Alltag. Traumasensible Familienbegleitung kann da von grosser Hilfe sein und die positiven Auswirkungen der traumasensiblen Familienbegleitung werden in Zukunft auch wirtschaftlich nachweisbar sein.
Zum Schluss noch ein paar Worte von Gabor maté:
Trauma ist die unsichtbare Kraft, die unser Leben prägt. Es prägt die Art und Weise, wie wir leben, wie wir lieben und wie wir der Welt einen Sinn geben. Es ist die Ursache unserer tiefsten Wunden. Wir brauchen eine traumabewusste Gesellschaft, in der es Eltern, Lehrern, Ärzten, politischen Entscheidungsträgern und Justizbeamten nicht darum geht, Verhaltensweisen zu korrigieren, Diagnosen zu stellen, Symptome zu unterdrücken und zu verurteilen. Vielmehr müssen wir verstehen, wodurch problematische Verhaltensweisen und Krankheiten, die Ausdruck einer verletzten menschlichen Seele sind, überhaupt entstehen.